Vom Denken beim Singen
Aspekte mentalen Coachings im Gesangsunterricht
Dieser Text ist entstanden als Verschriftlichung einer Präsentation, die ich 2024 für den Bundeskongress des BDG in meiner Heimatstadt Leipzig. In leicht abgewandelter Form ist er auch in der Konkressdokumentation der Zeitschrift „vox humana“ zu finden.
Im Wesentlichen war mein Beitrag für den BDG-Kongress inhaltlich mehr praktisch ausgerichtet und dadurch kein Vortrag im eigentlichen Sinne. So spiegelt der vorliegende Text weniger die dort gezeigten praktischen Umsetzungen wider als einige der Überlegungen und Fragestellungen, die mir allgemein im Coaching-Alltag begegnen.
Hier nur soviel: Die Arbeit mit inneren Bildern, Vorstellungen und Wahrnehmungen, die bewusste Steuerung von Gedanken und ihre konkrete Verankerung im Körper sollten im Praxis-Teil der Präsentation sicht- und hörbar werden und damit, wie sich Aspekte mentalen Trainings im „normalen“ Unterrichtsalltag systematisch einbauen lassen. Mit drei Studierenden der Leipziger Hochschule wurden verschiedene Techniken gemeinsam erprobt und auf ihren den Klang verändernden Einfluss hin untersucht.
Zunächst als eine Art Einführung in das Thema an dieser Stelle ein kleiner Rückblick auf die Entstehung dieser wunderbaren Musikhochschule in Leipzig, der Hochschule, die über viele Jahre meiner Kindheit und Jugend mein musikalisches Zuhause gewesen ist und der ich mich noch immer tief verbunden fühle.
Zuerst einmal hatten ein paar Menschen die Idee, ein Konservatorium zu gründen. Es war also am Anfang nicht mehr als ein Luftschloss. Aber dann starteten die Architekten und Bauplaner mit ihrer Arbeit. Aus der Idee wurde ein Planungsvorhaben und materialisierte sich schon mal insoweit, als Papier beschriftet und Modelle gebaut wurden. Danach kamen die Menschen mit den kräftigen Händen und bewegten große Mengen schweren Materials, eine konkrete Baustelle entstand, an deren Ende ein Prachtgebäude fertiggestellt war. Nun zogen Musiker und Pädagogen ein, brachten Noten und Instrumente mit. Im Laufe der Jahre änderten viele Räume ihre Bestimmung, es wurde um- und angebaut. Das Haus änderte sich mit den Menschen, die es mit Leben füllten. Und es wurde nicht nur ein Haus der Lehre, sondern auch des Leipziger Musik- und Kulturlebens.
Ganz ähnlich ist es auch beim Singen: Aus einer kompositorischen Idee, einer inneren Klangvorstellung („castelli in aria“) wird ein Notentext. Andere lesen diesen Text, entwickeln wieder eine Idee daraus und lassen diese Idee dann für einen kurzen flüchtigen Moment „echt“ werden. Wenn nun singende Menschen das tun, können sie kaum anders, als Sprache mitzudenken und dabei auch die verschiedenen Inhalte, die sie damit assoziieren. Selbst wenn sie „nur“ Vokalisen singen, ist zumindest unterschwellig eine Sprachmelodie präsent und dadurch auch wirksam. Mit sich ändernden Ideen und Kontexten verändert sich dabei auch der Gesang. Er ändert sich von Moment zu Moment, im persönlichen Lebensweg des singenden Menschen und ist natürlich von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation verschieden. Unterschiedlichste künstlerische Vorstellungen, konkrete sängerische Herangehensweisen, Hörerwartungen und -gewohnheiten und nicht zuletzt innere und äußere Umstände beeinflussen den Klang.
Nur zu gern wird immer wieder und auch völlig zu Recht auf den klassischen Gesang die Metapher des Spitzensports angewendet. Natürlich gilt das für viele andere Bereiche professionellen Singens in vergleichbarer Weise. International erfolgreicher Spitzensport ist dabei heutzutage ohne mentales Coaching undenkbar. Und so ist die Bedeutung der psychologischen/mentalen Aspekte des Gesangsberufs auch längst in der Wirklichkeit der Ausbildung junger Sängerpersönlichkeiten angekommen. Viele Hochschulen haben berufsbezogene Beratungsformate zu den verschiedensten Formen mentaler Arbeit im Angebot. Die Themenfelder sind dabei äußerst vielfältig:
- Wege in den Beruf – Überleben im Beruf
- Krisen- und Stressmanagement
- Techniken zum Umgang mit Lampenfieber und Nervosität
- das Vorsingen im Hinblick auf innere Haltung und Präsentation
- Techniken professioneller Kommunikation
- Fragen von Karriereplanung und Selbstorganisation
- Lebensplanung, Privatleben und professionelles Dasein
- Mentales Training im weitesten Sinne (Üben "ohne Stimme"...)
Ganz kurz möchte ich an dieser Stelle meinen persönlichen Weg der Beschäftigung mit diesen Fragen nachzeichnen: Schon während meines Klavierstudiums in Leipzig gab es eine intensive psychologische Komponente der methodischen Ausbildung. Es wurde an der Hochschule zum Thema „Hochbegabung“ geforscht. Das Thema war also grundsätzlich gesetzt. Neben meiner "normalen" Musikerausbildung habe ich dann später eine intensive Coaching-Ausbildung gemacht und bin zertifiziert als Practitioner und Master DVNLP (Deutscher Verband für Neurolinguistisches Programmieren, www.dvnlp.de). Beide Kursformate habe ich mehrfach durchlaufen und auch assistierend bei meinem Lehrtrainer mitarbeiten dürfen. Dabei habe ich mit vielen verschiedenen beruflichen und außerberuflichen Problemstellungen Kontakt gehabt und dazu Ideen entwickeln müssen. Aufgrund meiner eigenen langjährigen Lehrerfahrung an verschiedenen Hochschulen und meiner Erfahrung als Musiker "am Markt" kenne ich die praktischen Erfordernisse und typischen Thematiken und Herausforderungen gut. Seit Jahren gebe ich Kurse zum mentalen Training bzw. den mentalen Aspekten des Sänger-/Musikerberufs bei uns an der Hochschule in Karlsruhe im Rahmen des Career-Centers.
Da Musikmachen und Musikvermitteln ohne Denken logischerweise unmöglich ist, halte ich ein handwerkliches Erarbeiten von Denkstrategien (im weitesten Sinne) für sehr wichtig und hilfreich auf dem Wege zu einer professionellen musikalischen Kommunikation.
Um das menschliche Denken zunächst etwas griffiger zu beschreiben, möchte ich die Arbeit des Gehirns vereinfacht in drei Bereiche teilen. (Die Begriffe sollen dabei nicht als wissenschaftliche Termini verstanden werden, sondern nur als grob verknappte Beschreibung.)
- Das „Unbewusste“
Damit sind angeborene Reflexe und auch erworbene Automatismen gemeint, also alle Regelprozesse, deren bewusste Regelung das Gehirn zu viel Energie kosten würde. In diesem Bereich sind bewusste Einflussnahmen sehr schwierig bis unmöglich, auf alle Fälle nur auf großen Umwegen erreichbar.
Als Beispiel soll hier die Analogie „Hunger“ dienen. Er ist grundsätzlich nicht vermeidbar und nur schwer zu ignorieren, so lange man nicht isst, aber weiterhin überleben möchte. - Das „Unterbewusste“
Der Begriff umfasst all das, was mit Charakter, Persönlichkeitsstruktur, Psychologie zu tun hat, dem „Seelischen“. Hier fließen unsere Erfahrungen und Prägungen ein. Es ist das durch Reflexion erschließbare Nicht-Bewusste. Reflexion meint hier die intellektuelle Rückschau auf eine gemachte Erfahrung. Sie dient der Erlebnisverarbeitung und Bewusstwerdung. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren und Bewerten bekommen die Erlebnisse und Erfahrungen festere Strukturen. Sie weisen damit dann über den Augenblick hinaus und gewinnen an Bedeutung für den Alltag.
Die Analogie wäre hier der Umgang mit Essensvorlieben. Sie sind deutlich leichter beeinflussbar, aber immer noch sehr stabil und nur langfristig wirklich änderbar, was jeder weiß, der schon mal versucht hat, die Weihnachtspfunde nachhaltig wieder loszuwerden. Dazu braucht man schon ein hohes Maß an Motivation. - Das „Bewusste“
Hiermit ist all das gemeint, was ich buchstäblich in der Hand habe, was ich absichtlich direkt steuern kann.
Die gustatorische Analogie bestünde in der im aktuellen Moment konkreten Essensentscheidung.
Diese drei Bereiche greifen bruchlos ineinander, beeinflussen sich gegenseitig und gehen dabei hochkomplexe Wechselwirkungen ein. Unangenehm an der ganzen Sache ist für den um sängerische Kontrolle ringenden Menschen, dass das Gehirn selber entscheidet, welche Dinge es autark und ohne Bewusstwerdung regeln möchte und welche es bewusst werden lässt. Im Tun kann sich das schon mal als herzlich unangenehm darstellen, z.B. dann, wenn man aller rationalen Einschätzung einer vermeintlich einfachen Bühnen-Situation zum Trotz heftiges Lampenfieber bekommt.
Jedes Modell, jede Beschreibung dieser Wechselwirkungen beim Singen, jedes theoretische System, jede Methodik ist eine starke Vereinfachung tatsächlicher Vorgänge. Im Bilde gesprochen: die Noten sind keine Musik, sondern Papier und Druckerschwärze. Ein Atlas mag die Topographie oder sogar eine kulturelle oder politische Wirklichkeit eines Kontinents/eines Landes widerspiegeln, aber er sagt nichts darüber aus, wie es sich in der beschriebenen Umgebung lebt.
Zur genauen theoretischen Beschreibung der sängerischen Umsetzung von Musik braucht man eine große Menge extrem spezialisierter Leute (allein Google nennt mehrere Millionen Kontexte auf die Suche nach „Voice“). Selbst wenn man das gesamte Wissen aller Experten in eine einzige universalgelehrte Person schmelzen könnte, hätte man trotzdem kaum eine Chance, mit diesem ganzen Wissen ein guter Sänger zu sein, wenn man nicht eine Übersetzung in die Praxis hätte. Diese Übersetzung ist zwingend eine sehr starke Vereinfachung. Die täglich konkrete Herausforderung ist, wie weit man im Einzelfall von der Ausdifferenzierung zur Vereinfachung gehen möchte. Die vermutlich konsequenteste und in diesem Sinne selbstverständlich auch zulässige Vereinfachung wäre wohl „Sing einfach los!“ Damit wäre man sehr nah dran an dem, was man methodisch das „Intuitive“ oder „Reflektorische“ nennen könnte.
Dieser Übersetzungsprozess, dieses Handhabbarmachen ist naturgemäß sehr persönlich und von verschiedenen Parametern wie Talent, Training, Sozialisation, Erfahrung usw. abhängig.
Ein Themenfeld, das natürlich zentral in meinen Coaching-Kursen auftaucht, ist das Lampenfieber oder, in seiner extremen Ausprägung, die Auftrittsangst. Wir haben es mit einem Beruf zu tun, dessen Wirklichkeit beginnend mit der Ausbildung (leider) extrem fehlerorientiert ist. Unsere Seele/unser Unterbewusstes hat zudem die starke Tendenz, Feedback auf der Identitätsebene einzuordnen. „Du kannst ‚x‘ nicht!“ wird dann als „Du bist ‚y‘ nicht!“ verstanden. Das ist eine enorme psychische Herausforderung oder sogar Belastung. In meinen drei Anfängerjahren am Theater haben sich 7 (!) Menschen mit psychischen Problemen in klinische Behandlung begeben müssen. Selbst bei denkbaren Vorbelastungen und angenommener Zufälligkeit ist das eine ungewöhnlich starke Häufung. Weiterhin haben wir es mit der Wirksamkeit eines weit verbreiteten Klischees oder Mythos zu tun, nämlich der angeblich zwingenden Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn. Wie verrückt muss man denn nun sein, um als Künstler oder Künstlerin wahrgenommen zu werden? „Bin ich vielleicht viel zu normal für diesen Beruf?“ Es gib viele weitere Abformungen dieses Gedankenkomplexes.
Viele unserer Wirkungsfelder sind sehr kompetitiv oder werden zumindest so empfunden. Wir sind oder fühlen uns gezwungen, unsere Leidenschaft für die Sache zu kommerzialisieren, oft sogar bis zur Selbstausbeutung. Dazu kommen große Unsicherheiten im Hinblick auf Ort und Einkommen, auf die Möglichkeiten eines Familienlebens, work-life-balance…
Dann werden starke Spannungsfelder wahrgenommen zwischen hierarchischen Strukturen und partizipatorischen, demokratischen Bestrebungen. Man macht zwingend Macht- und Ohnmachtserfahrungen, erlebt „Me-too“ und „Bodyshaming“-Thematiken, findet sich im Widerspruch von Business-Härte und notwendiger „Durchlässigkeit“ in musikalischen und Rollen-Kontexten. Man arbeitet sich an Abhängigkeiten und Fremdbestimmtheit ab und soll dabei eigenverantwortlich agieren. Einsamkeitserfahrungen, z.B. das Leben aus dem Koffer, die spezifischen Schwierigkeiten in der Partnerwahl, aber auch das ganz simple Alleinsein in der Suche nach dem „Was-ist-richtig?“. Welches Fach soll ich singen, wie soll ich singen, welches Berufsfeld passt zu mir?
Stellt man 10 Personen eine dieser Fragen, hat man danach sicher insgesamt wenigstens 11 Meinungen, von den immer wieder erlebten Widersprüchen in den Aussagen allein einer Person ganz zu schweigen…
Dazu kommt ein großer Veränderungsdruck über den Berufsweg hinweg: Lehrerwechsel, Fachwechsel, Ortswechsel, Partnerwechsel, gänzlich neue Standbeine entwickeln, eventuell einen Berufsausstieg planen oder seelisch verarbeiten. Man muss mit Identitätsinfragestellungen klarkommen (Stichwort Pandemie-Erfahrung). Kaum jemand wollte wohl primär in diesen Beruf, um reich und berühmt werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist einfach zu gering. Man „ist“ halt Sängerin oder Sänger. Und so wird ein Berufsverbot sehr wahrscheinlich als Identitätsverbot empfunden. Bei einem 9-to-5-Job ohne Identitätsbindung ist das vermutlich deutlich unproblematischer. Und dann hat man ständig mit dem Widerspruch zu kämpfen, einerseits „alles geben“ zu sollen, sieht sich aber andererseits der Forderung ausgesetzt, einen Plan B zu haben.
Einerseits müsse man „brennen“, sonst sei alles sinnlos, und andererseits sollte man also auf Sicherheit spielen. Ja was denn nun???
Dann bewegen wir uns zwischen verschiedenen Grenzräumen auch in der konkreten Berufswirklichkeit: Rolleneinstieg finden, aber auch wieder aussteigen. („Wie werde ich Mimi und wie werde ich Mimi auch wieder los?“) Wie ermögliche ich es mir, bestimmte Rollen/Figuren charakterlich/psychologisch zu erfassen, ins eigene Wesen zu übersetzen, selbst wenn die Figur sehr abseitig zum eigenen Ich liegt. Wie kann ich mich ganz hineingeben, aber mich nicht darin verlieren? Wie kann ich konkrete persönliche Grenzen (z.B. Nacktheit auf der Bühne) schützen? Wie gehe ich damit um, fremdbestimmt entgegen künstlerischer Überzeugungen agieren zu sollen/zu müssen?
Einerseits soll man ganz in der Rolle aufgehen, also einen bestimmten Kontrollverlust in Kauf nehmen, andererseits sieht man sich der Forderung nach Kontrolle und Einhaltung bestimmter Verabredungen auf der Bühne ausgesetzt.
Viele weitere Fragen stellen sich uns in unserem fordernden Berufsalltag: Wie lerne ich am effektivsten?
Wo beginnt und wo endet kulturelle Aneignung, was darf ich heute überhaupt singen? Muss ich Texte ändern oder nicht?
Welcher Lehrer hat „Recht“, wenn beide das exakte Gegenteil sagen? Und wie gehe ich mit Kritik bzw. Kritiken um?
Wie kommuniziere ich grundsätzlich? Was tun, wenn ich nicht verstanden werde? Und was tun, wenn ich zwar verstanden werde, aber nicht erreiche, was ich erreichen möchte?
Wie sieht es mit meiner persönlichen Verfasstheit aus? Mit geht’s nicht gut, wie kann ich trotzdem singen/performen? Der Dirigent mag mich offensichtlich nicht, wie liefere ich trotzdem eine souveräne Leistung ab?
Und nicht zuletzt das große Themenfeld der „gesellschaftlichen Verantwortung“. Habe ich die tatsächlich? Wo stehe ich als Bach-Interpret in der Klimakrise? Kann ich jetzt im Angesicht des Ukrainekrieges einfach nur eine schöne Belcanto-Arie singen? Darf ich noch an „das Schöne“ glauben oder muss ich mich (künstlerisch) um die Brüche in der Welt kümmern? Und wenn ja, was heißt das dann für mein Singen? Und habe ich noch gesellschaftliche Verantwortung, wenn ich gar keinen Job habe?
Und wenn man dann allumfassend gedacht hat, höchst professionell gecoacht ist, alle Fragen perfekt beantwortet wurden, warum singt dann der „dumme“ Kollege einfach besser als ich??? Man muss für diesen Weg schon sehr hart im Nehmen sein oder, anders gesagt, große Resilienz aufgebaut haben.
Viele dieser Fragen sind leicht gestellt, die Antworten aber müssen persönlich gefunden und manchmal mühsam erarbeitet werden. Es sind Fragestellungen vor dem Hintergrund hoch unterschiedlicher Persönlichkeiten, ihren Prägungen, Lebenswegen und Absichten. Es verlangt ein hohes Maß an Außen- und Innensicht, Reflexion und Einordnung, also Denken oder anders gesagt: mentaler Arbeit. Es ist ein Feld, auf dem es viel zu entdecken gibt. Die Beschäftigung damit bereichert aus meiner Sicht weit über den rein musikalisch-praktischen Nutzen hinaus.
Natürlich ist es an dieser Stelle unmöglich, alle verschiedenen Ansätze zur Lösung aufzulisten oder gar einzuordnen.
Die wichtigste „mentale“ Technik im Beantworten solcher Fragen scheint mir eigentlich ganz einfach: viel und absichtslos-neugierig nachfragen! Wir arbeiten in einem Berufsfeld intensiven Kommunizierens. Wer hier angstfrei und unvoreingenommen der Fülle der Antworten gegenüber auf Suche geht, kann eigentlich nicht verlieren. Und im Moment der Verwirrung, des Verlassens der Komfortzone liegt ein großes kreatives Potential (verborgen).
Ich möchte stellvertretend für viele andere auf die Arbeit von zwei Kolleginnen verweisen, die sich intensiv mit dem Musikerbezug der Psychologie beschäftigen: Petra Keßler (www.musikermentaltraining.de) und Claudia Spahn am Freiburger Institut für Musikermedizin (www.uniklinik-freiburg.de/musikermedizin.html, u.a.: Lampenfieber – Handbuch für den erfolgreichen Auftritt, Grundlagen, Analyse, Maßnahmen, Henschel Verlag, Leipzig 2012).
Für Rückfragen und weitere Informationen stehe auch ich gern zur Verfügung (Kontakt über den BDG oder die Website der Hochschule für Musik Karlsruhe).
Für eine mehr allgemeine Bearbeitung der hier angerissenen Thematiken kann ich sehr die Ausbildungen der DVNLP empfehlen. Hier bekommt man ein breit gefächertes Programm effektiver Methoden an die Hand (www.dvnlp.de). Leider steht das NLP (Neurolinguistisches Programmieren) wegen seiner großen Wirksamkeit im Bereich der Kommunikation und damit einer gewissen Missbrauchbarkeit zum Zwecke rein selbstbezogener Nützlichkeit („Manipulation“) auch stark in der Kritik. Aber ein gewisses Maß an Talent beim Auffinden der „richtigen“ Berater und Lehrer gehört wohl zu einem erfolgreichen Weg als Sängerin und Sänger. Die Methodik bleibt davon erst einmal unberührt. Der Mensch macht den Unterschied. Und damit öffnet sich ein weiteres Feld für Fragen und Antworten, das Denken ist halt eine unendliche Geschichte…
Friedemann Röhlig begann seine musikalische Ausbildung mit einem Klavier-, Harfe- und Dirigierstudium an der Musikhochschule seiner Heimatstadt Leipzig. Anschließend studierte er Gesang an der Stuttgarter Musikhochschule. Zunächst Ensemblemitglied am Staatstheater Kassel, gastierte er seither an den großen Opernbühnen Europas und bei renommierten Festivals. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Pädagogik. Nach verschiedenen Lehraufträgen und einer Professur in Leipzig ist er seit 2009 Professor für Gesang an der Hochschule für Musik in Karlsruhe und gibt regelmäßig Meisterkurse. Er ist Mitglied im BDG (Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen, bdg-online.org)

Hohe Töne, scharf wie ein Schwert?
Über das Singen und die Kampfkunst
Immer wieder werde ich gefragt, was das Besondere an der Kampfkunst Iaido sei. Das in präzise Worte zu fassen, ist schwer. Darin sind sich das Iaido und das Singen sehr ähnlich. Man kann viele kluge Worte darüber machen, aber wahrhaft verstehen kann man nur durch erfahren. Man muß es erleben.
Zunächst einmal ist Iaido die in Jahrhunderten überlieferte Praxis der Samurai, sich im Umgang mit dem Schwert zu üben. Wörtlich übersetzen lässt sich der Begriff Iaido nur schwer und bedeutet in etwa: der Weg des „Ganz-dabei-Seins“.
Über die ursprünglich kriegerische Vergangenheit weit hinausgehend ist Iaido ein Weg des körperlichen Trainings und der geistigen Übung. Es ist eine Möglichkeit unter vielen, sich seiner Persönlichkeit in allen Facetten zu stellen und dabei unter anderem der Frage des Umgangs mit dem Wettkampf an sich. Meditative Aspekte spielen dabei ebenso eine Rolle wie im weitesten Sinne philosophische. Es ist ein Ringen um und mit sich selbst.
Insofern finden sich im Üben einer Kampfkunst allgemein viele Parallelen zum Singen und Singen-Lernen. Im Iaido mit seinen Charakteristika geschieht das in besonderer Weise: Bewegen im Raum, Distanz- und Timinggefühl, Balancegefühl, Atemkontrolle, Konzentration, Fokussierung auf einen Punkt, Verfeinerung von Wahrnehmungen, die Arbeit mit inneren Bildern....
Singen an sich ist ja bekanntlich ein hochkomplexer Prozeß und klassischer Gesang mit dem Anspruch an professionelle Beherrschung und sichere Wiederholbarkeit noch einmal mehr. Alles muß in einem Moment zusammenfallen. Diesem Wunder kann man sich von verschiedensten Seiten nähern. Professionelle Beherrschung schließt das Training sowie die Verinnerlichung und Automatisierung einzelner Teilaspekte ein. Unglaublich viele verschiedene Systeme, Techniken, Schulen spiegeln diese Arbeit wider. Eine schier unglaubliche Zahl an Texten versucht, aus dem Schwierigen und Komplexen etwas Einfacheres, Praxisorientiertes und einigermaßen Kontrollierbares zu destillieren. Mentale Verfasstheit, körperliche Voraussetzungen und Prozesse, Atem- und Stimmkontrolle, Artikulation und sprachliche Verständlichkeit, Klangschönheit, musikalische Vorstellung, szenische Präsenz und vieles mehr…
Braucht man nun das Iaido zum Singen? Nein. Meines Wissens bin ich der einzige professionelle klassische Sänger, der sich mit dem Iaido so intensiv beschäftigt hat.
Hat es mir aber etwas gebracht für’s Singen? Ja, viel.
Hätte ich all das auch anders lernen können? Ganz sicher auch ja.
Ich war ein Kampfsportler lange vor dem Singen und bin zum Iaido gekommen wegen der Beschäftigung mit der japanischen Kampfkunst allgemein und nicht wegen des Singens. Und so habe ich dann die Gemeinsamkeiten und Brückeneffekte eher zufällig entdeckt.
Worin liegt nun der Nutzen der Kampfkunst ganz allgemein: szenische Courage, Treppenstürze, effektvolles Fallen, Fechtkompetenz mit Schwertern und Stöcken, „freundschaftliche Verwandtheit“ mit dem Boden, gute Orientierung im Raum, körperliche Fitness, Körperkontrolle, Timinggefühl, gutes Antizipations-Vermögen für Bühnenprozesse (man kann einschätzen, wann der Schuh der wütenden Sopranistin am eigenen Kopf auftrifft …), stabiles Stehen, Beweglichkeit, Wettkampfhärte, Streßresistenz...
Und wo liegen die Risiken mancher Kampfkünste? Durch die große Nähe zum Kampf können muskuläre Härte, Festigkeit/Steifheit allgemein und besonders im Atem die Folgen sein.
Wenn mich Interessierte nach meinen Empfehlungen zur Kampfkunst fragen, würde ich unter anderem zum Aikido raten. Oder zu den „sanften“ chinesischen Künsten Qi Gong und Tai Chi. Dringend abraten möchte ich von allen harten Kontakt-Kampfsportarten wie Karate, Taekwondo, Kickboxen usw.
Fürs Iaido nun braucht man keine besonderen Kräfte, kein Sixpack. Absolut jeder kann es erlernen. Die beschriebenen Risiken zu großer Festigkeit bestehen bei sinnvollem Training nicht. Zu viele Muskeln machen eher langsam und nutzen für eine saubere Ausführung kaum.
Auch ist das Iaido an sich in meinen Augen eine hochästhetische Angelegenheit und als Bühnenkunst auch einfach nur schön anzuschauen.
Nicht gut kenne ich mich mit den nichtasiatischen Kampfkünsten aus, aber das brasilianische Capoeira scheint mir zum Singen auch sehr tauglich, weil es im Naturell einen hochflexiblen Körper braucht und auch noch die Bindung an Musik und Rhythmus mit sich trägt.
Was hat mir das Iaido nun gebracht? Nicht zuletzt einen wirklich exklusiven Moment auf der Opernbühne. Mein Iaido wurde in einer Opernproduktion in Stuttgart eingebunden. Damit hatte ich dann wirklich einen echten „unique selling point“. Vermutlich wäre aber niemand auf diese Idee gekommen, wenn nicht bekannt gewesen wäre, daß ich mich mit dem Iaido beschäftige. Und sehr sicher wird es auch nie wieder vorkommen, denn in welcher Oper sollte japanische Schwertkunst wirklich Sinn ergeben? Womit sich dieser vermeintliche Marktvorteil realistisch gesehen wieder in Luft auflöst. Aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht war es also eine ziemliche Fehlinvestition. Immerhin werde ich aber gern bei Fechtszenen zu Rate gezogen, wie man das effektiv, wirkungsvoll und sängersicher in Szene setzen kann, denn die grundsätzlichen Prinzipien sind bei allen Fechtkünsten wiederzufinden.
Wenn die Frage wäre: üben oder ein Buch über Musik lesen, dann lautete meine Antwort: geh üben! Und wenn die Frage wäre, ein Buch über Musik zu lesen oder etwas anderes zu tun, dann lautete meine Antwort immer: lies ein Buch über Musik! Wer dann aber genug geübt und genug gelesen hat und jetzt noch Kapazitäten und Interessen frei hat, dem kann ich die Kampfkünste so wie die anderen körperbezogenen Beschäftigungen (Feldenkrais, Yoga, Alexandertechnik etc...) sehr ans Herz legen.
Was kann das Iaido nun besonders gut? Wie schon erwähnt sind das Formbewußtsein, Fokussierung, Distanzgefühl, Orientierung im Raum, Körperkontrolle, Balancegefühl, Atemanbindung, die Arbeit an inneren Bildern, das Behaupten des eigenen Platzes, mentale Arbeit. Und nicht zuletzt ist es das Üben-üben, denn die Beschäftigung mit dem Iaido ist eine extreme Art der Beschäftigung/der Konfrontation mit sich selbst. Es ist ein ewiges „Frickeln“ an Zentimetern, Details und Nuancen. Man braucht eine enorme Frustrationstoleranz, weil es lange dauert und viele überaus langweilige Übstunden vergehen, bis die Formen „spannender“ werden und bis man mal so ein richtiges Ich-habs-im-Griff-Gefühl bekommt. Das zumindest kenne ich persönlich vom Singenlernen auch ziemlich gut...
Da wir im Iaido nur das machen, was japanisch „Kata“ und übersetzt also „Form“ heißt, hat es eine große Nähe zur Abstraktion und ist neben dem Kyudo, dem japanischen Bogenschießen, wohl am nähesten zur „Kunst“ und am weitesten entfernt vom Sport. Wenn Lied vielleicht das dichteste In-Form-bringen einer Szene, einer Emotion ist, dann könnte man Iaido als das Lied unter den Kampfkünsten bezeichnen.
Und dann sind da noch die mentalen, um nicht zu sagen die philosophischen Aspekte:
Irgendwann begreift man im Üben, was man da eigentlich tut: man lernt den Umgang mit einer im Wesen tödlichen Waffe. Ab dem 5. Dan wird mit scharfem Schwert trainiert. Da wir im Iaido aber nicht gegen echte Gegenüber antreten, könnte man also sagen, daß man ritualisiert und „im Geiste“ tötet. Im Kyudo gibt es die Vorstellung, mit dem Pfeil sich selbst zu treffen.
Insofern ist das Iaido in gewissem Sinne vielleicht die konsequenteste Kampfkunst. Es ist ein Wettkampf auf Leben und Tod, aber eben nicht in „echt“.
Da man in den Katas immer ein Gegenüber visualisieren soll, das so ist, wie man selbst (oberflächlich betrachtet „von gleicher Körpergröße“), stellt man sich dem Ich und kann darin letztlich auch den Anderen in seiner Art und seiner Verletzlichkeit begreifen.
Die Fähigkeit das „Ich“ in Beziehung zum Anderen, zum Gegenüber zu begreifen, ist bewusst oder unbewusst eine wichtige sängerische Aufgabe. Dass das im Ensemblesingen so ist, bedarf keiner weiteren Erklärung. Aber auch als Solisten agieren wir nur vermeintlich solistisch und so gut wie immer im Team mit anderen Musikerinnen und Musikern. Die Hirnforschung hat mittlerweile gut belegt, dass man besser musiziert, je besser das umgebende musikalische Umfeld ist, je besser die Musik ist, die man hört. Man wächst am Anderen. Schumann soll sinngemäß gesagt haben, von Stummen können man nicht reden lernen.
Ich arbeite seit vielen Jahren auch intensiv an den mentalen Aspekten des Singens, habe eine umfangreiche Coachingausbildung gemacht und gebe Kurse in diesem Bereich. Einen zentralen Bestandteil der mentalen Arbeit im Leistungssport bilden Techniken der Visualisierung. Hier kann das Iaido logischerweise eine große Hilfestellung leisten, weil man permanent damit beschäftigt ist, Dinge und Vorgänge zu visualisieren, die es in der Wirklichkeit des Moments nicht gibt. Man lernt, im Geiste zu üben. Und natürlich spart man in jedem Übkilometer, den man im Iaido zurücklegt, enorme Strecken mit der Stimme. Man erarbeitet Aspekte ohne Stimme. Das schont das „Material“...
In fast allen mentalen Coaching-Kontexten kann man vom sogenannten „unique selling point“ hören und viel wird darüber gefachsimpelt, wie kompetetiv unser Beruf sei. Ich persönlich sehe das ganz anders: Es nützt wenig, für sich selbst herausragend im Vergleich zu anderen zu sein. Das schult nur das Ellenbogenbewußtsein. Musik machen hat nichts mit Wettbewerb, gar Wettkampf zu tun. Für mich ist es ein Miteinander, das nur auf der Basis des Verstehens und Verständnisses nachhaltig funktioniert. Besondere Fähigkeiten des oder der Einzelnen entfalten ihre eigentliche weltbewegende Kraft im Für- und Miteinander, wenn sie im Dienst eines übergeordneten Inhalts stehen. Sonst ist es leere Egozentrierung. Es macht einen Unterschied, ob mein Können im Dienste eines Inhalts und einer Gruppe steht oder vordergründig nur meinem erfolgreichen Sieg über andere. Im ersten Fall wäre dann ein mögliches individuelles Scheitern ein Verlust für alle Beteiligten und würde in den Versuch münden, dieses Scheitern auch gemeinsam zu überwinden. Letzteres führt zur Dissoziierung derer, die das Scheitern des Individuums beobachten und aus der Distanz erleben. Da hört man dann: „Jaja, Hochmut kommt vor dem Fall!“ Man hält jetzt nur Ausschau nach dem nächsten herausragenden „Star“, seinem Aufstieg und seinem unvermeidlichen Fall.
„Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“ sagte Pina Bausch immer wieder zu ihren Tänzerinnen und Tänzern. Ein Plädoyer dafür, nicht auf Sicherheit zu spielen, keine falschen Kompromisse zu schließen, keine halben Sachen zu machen, alles zu geben, so als hinge das eigene Leben davon ab. Sieg und Niederlage, mit der Stimme, auf der Bühne und im Leben, der Sieg über sich selbst im Spiegel der eigenen Schwächen; in diesem universalen Anspruch an die Kunst und an ihre Ausübung ist mir persönlich das Iaido ein unnachgiebiger und vertrauter Gefährte, Lehrer und Freund geworden.
Friedemann Röhlig ist Professor für Gesang an der Musikhochschule Karlsruhe. Seine internationale Gesangskarriere führte ihn quer durch Europa und Amerika. Er praktiziert neben dem Iaido seit vielen Jahren verschiedene japanische Kampfkünste (Karate, Kyudo, Ju-Jutsu, Aikido). Er ist Träger des 7. Dan Renshi im Iaido und war 2004 Gewinner der Meisterschaften im japanischen Bundesland Shikoku. Darüber hinaus hat er eine umfangreiche Ausbildung für mentales Coaching gemacht und beschäftigt sich intensiv mit den psychologischen Aspekten der sängerischen Arbeit.